Editorial

Wer in der aktuellen »Zeitenwende« Wahrhaftiges zu Russland äußern will, hat mehr denn je die fünf Schwierigkeiten zu überwinden, die Bert Brecht 1935 so beindruckend beschrieben hat: »Er muss den Mut haben, die Wahrheit zu schreiben, obwohl sie allenthalben unterdrückt wird; die Klugheit, sie zu erkennen, obwohl sie allenthalben verhüllt wird; die Kunst, sie handhabbar zu machen als Waffe; das Urteil jene auszuwählen, in deren Händen sie wirksam wird; die List sie unter diesen zu verbreiten. Diese Schwierigkeiten sind groß …ja sogar für solche, die in den Ländern der bürgerlichen Freiheit schreiben … Und all diese Schwierigkeiten müssen wir zu ein- und derselben Zeit lösen …«

Auch wer sich – der Wahrheit verhaftet – zur Gründung der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken (UdSSR, kurz: Sowjetunion) vor 100 Jahren äußert, muss heute mehr denn je diese und andere Schwierigkeiten überwinden.

Wir stellen uns dieser Aufgabe, denn – wieder Bert Brecht: »Der Schreibende soll sich nicht den Mächtigen beugen, er soll die Schwachen nicht betrügen.« Und wir stellen uns dabei in die Traditionslinie der Sozialdemokraten und Kommunisten, die im Kampf um Frieden, Entspannungspolitik, friedliche Koexistenz und Sozialismus unsere Zeitschrift vor fast 60 Jahren gegründet haben; trotz KPD-Verbot und noch mitten in einem Kalten Krieg, den niemand nach der Befreiung Europas von Faschismus und Krieg (mit maßgeblicher Hilfe der Sowjetunion!) für möglich gehalten hätte und der von heutiger, professionalisierter Propaganda aus den Hauptstädten kriegführender Staaten (seien sie Treiber oder Getriebener) noch übertroffen wird.

Wir stellen uns dieser Aufgabe, indem wir Schreibende, die sich in ihren Heimatländern nicht »den Mächtigen beugen« – ohne inhaltliche Vorgaben unsererseits – zum Einstieg in den Heftschwerpunkt gebeten haben, uns zu schreiben, was ihnen zum 100. Geburtstag der UdSSR wichtig erscheint. Ihnen und uns geht es dabei weniger um die xte Debattenschleife über Fehler, Irr- und Umwege, bittere Niederlagen des ersten Sozialismus-Versuches etc. Dazu haben wir oft und ausführlich argumentiert.
Der heutige Zustand der Welt verlangt von uns allen mehr Nachdenken über Alternativen zum Bestehenden, d. h. über zukünftigen Sozialismus und Wege dorthin. Davon handeln darum die Beiträge des zweiten Schwerpunkt-Blocks. Auch die Beiträge »Lenin und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen« sowie »Die Ukraine und die großrussische Macht – Rakowski gegen Stalin, 1922/23«, in denen es um gleichberechtigte, friedliche Beziehungen zwischen Staaten, Nationen und Ethnien geht. Eine Herausforderung für Gegenwart und Zukunft.

Beim dritten Schwerpunkt-Block haben wir uns entschieden, nicht über Russland, seine Innenverhältnisse, seine Außenpolitik und seine Kriegsziele zu schreiben, sondern Russen selbst über »Russland heute« zu Wort kommen zu lassen.

Die hier von uns kollektiv ausgewählten Beiträge sind nur ein Bruchteil dessen, was wir in russischen Quellen, vor allem in der »Swobodnaja Pressa« gefunden haben. Sie geben Einblick in inner-russische Diskussionen, lassen aber selbst für Russland-Kenner viele Fragen offen und erregen hier und da Widerspruch- auch ganz heftigen. Wir sind aber davon überzeugt, dass wir in komplizierter Lage mit diesem »Gesamtpaket« Denkanstöße zu einer notwendig-konstruktiven Kontroverse über die Zukunft beitragen.